6
Die Begierde ist ein Trieb mit dem Bewusstsein desselben.
Baruch de Spinoza (1632–1677)
(11. Februar)
Als Liana mit ihrer Erzählung geendet hatte, schwiegen beide einige Zeit. Rainer wusste nicht recht, wie er beginnen sollte.
»Warum hat er das getan?«, fragte er schließlich lahm.
»Was meinen Sie, Herr?«
»Warum hat er dich so schlagen und missbrauchen lassen? Er hat behauptet, dich zu lieben! Wie konnte er das tun?«
Liana zögerte. »Ich fühlte Schmerz, Herr.«
»Das kann ich mir denken!«
»Nein, Herr, vorher fühlte ich Schmerz. Schmerz und eine schreckliche Leere. Schwärze. Verlorenheit. Angst.« Erneut zögerte sie. Sie wusste, dass dies für Rainer Neuland war. »Ein körperlicher Schmerz fokussiert. Er engt den Horizont auf einen Punkt ein. Es gibt nichts mehr Wichtigeres, als das Warten auf den nächsten Schlag und das Gefühl, wenn der Schmerz verebbt …«
»Schmerz, um Trauer zu bekämpfen?«, unterbrach Rainer zweifelnd. Liana verstummte. Nur ein leichtes Zittern ihrer Unterlippe verriet ihre Gefühle.
»Entschuldige«, flüsterte Rainer. Wieder sagte lang niemand etwas. Liana fühlte sich unwohl. Am Küchentisch zu sitzen, das schickte sich nicht für sie. Seit Jahren war ihr Platz am Boden, zu Füßen ihres Herrn gewesen. Doch dieser Mann hier? Würde er je wirklich ihr Herr sein können? Oder es überhaupt wollen? Er schien nichts von dem zu verstehen, was sie mit Alain so wunderbar verbunden hatte. Verzweiflung stieg in ihr auf. Und nun war ihre Erinnerung wieder geweckt, und damit der Schmerz. Sie konnte nicht verhindern, dass ihr Tränen in die Augen stiegen, und von dort ihren Weg über die Wangen fanden. Doch Liana wischte sie nicht ab. Das wäre unschicklich gewesen. Eine Sklavin darf ihre Gefühle nicht vor ihrem Herrn verbergen. Sie ließ ihre Hände auf den Oberschenkeln liegen, um wenigstens einen Rest von Anstand zu wahren.
Rainer fühlte einen fast übermächtigen Impuls, diese Frau in die Arme zu nehmen, festzuhalten und zu trösten. Er wollte sie vor allem beschützen, was sie quälte. Er ahnte auch, dass sie sich genau das wünschte, aber trotzdem brachte er es nicht über sich, diese Grenze zu überschreiten und sie zu berühren.
So musste es einmal mehr die Sklavin sein, die den nächsten Schritt tat. Dies lief völlig falsch. Eine trübe Stimmung war eingetreten, und sie, Liana, war schuld daran. Sie hatte mit ihrer zu drastischen Erzählung den magischen Moment zerstört. Sie hätte wissen müssen, dass sie ihn damit überforderte.
Endlich gab sie sich einen Ruck. Selbstvorwürfe brachten sie nicht weiter. »Darf ich Ihnen das Haus zeigen, Herr?«
»Sehr gern«, antwortete er, froh, dem peinlichen Schweigen zu entkommen. Er reichte ihr ein Papiertaschentuch. »Hier, entschuldige bitte, dass ich dich ausgefragt habe.«
»Es ist gut Herr«, antwortete Liana, und als sie sich die Tränen abgetupft hatte, stand sie auf und ging sehr dicht an Rainer vorbei, sodass ein Hauch ihres Negligés seine Hand streifte und ihr feiner Duft in seine Nase stieg. Ihr ausgeglichenes Naturell erlaubte es ihr, sich wieder zu sammeln und sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren: Sie musste den Erben von Alains Besitz glücklich machen.
So stieg sie ihm voran die Treppe nach oben. Ihr Kleidungsstück, das ohnehin nur an einigen strategischen Stellen undurchsichtig war, betonte locker fallend die Linie ihrer Taille und endete knapp unterhalb des Pos. Obwohl sie sich nicht umschaute, wusste Liana genau, wo Rainers Blick ruhte, und sie wiegte die Hüften vielleicht etwas mehr, als es nur zum Erklimmen der Treppe nötig gewesen wäre. Rainer ertappte sich dabei, dass er einige Stufen zurückblieb und sich wünschte, sie würde sich ein wenig nach vorn beugen. Oder das Negligé würde durch irgendeine Magie ein Stück hochrutschen. Und der Gedanke, dass er sie wohl auch einfach auffordern könnte, sich auszuziehen, und sie würde es möglicherweise tun, erregte ihn maßlos. Als sie im oberen Stockwerk angekommen waren, galt seine Aufmerksamkeit daher mehr dem beengenden Druck in seiner Hose und den verlockenden Rundungen ihres Hinterteils, als den an sich durchaus bemerkenswerten architektonischen Details des Hauses.
Schließlich waren sie in einem Raum neben dem Schlafzimmer angelangt, den Liana als »Lesezimmer« bezeichnete. Rainer schnaubte spöttisch: »Ich habe im ganzen Haus kein einziges Buch gesehen! Mein lieber Onkel scheint sich in seinem sogenannten Lesezimmer anderen medialen Vergnügungen gewidmet zu haben als den literarischen!« Er verachtete das TV zutiefst. Nach dem Tod seiner Mutter hatte er als Erstes deren Fernseher entsorgt und den frei gewordenen Platz mit einem weiteren Bücherregal besetzt. Geringschätzig wies er auf den großen Bildschirm, der die Stirnwand des Zimmers fast völlig in Beschlag nahm. Diesem gegenüber war eine bequem aussehende Sitzgruppe aufgestellt, und davor lag ein flauschiger Teppich. An der Wand daneben war eine dieser offenbar unvermeidlichen Metallösen angeschraubt.
»Ja und nein, Herr«, antwortete Liana, »es stimmt, dass man hier fernsehen kann. Oder Filme anschauen. Oder die Liveübertragung aus dem Keller. Aber man kann auch lesen. In diesem Haus befindet sich eine Bibliothek, die sehr viel umfangreicher ist, als die Stadtbücherei. Nur eben nicht auf Papier.« Damit nahm sie einen Tablet–Computer vom Beistelltisch neben der Sitzgruppe und fragte Rainer:
»Was möchten Sie lesen? Ich zeige Ihnen, wie man es aufrufen kann.«
Rainer, immerhin leitender Angestellter der Stadtbücherei, fühlte sich herausgefordert. »Angesichts unserer grotesken Situation hier fällt mir nur eines ein, was ich mal wieder lesen sollte: Spinozas Ethik!«, versetzte er, ohne allerdings ernsthaft zu erwarten, dass die junge Frau auch nur verstand, wovon er sprach.
»Da brauche ich nicht zu suchen«, antwortete diese ungerührt. »Die Ethik haben wir sowohl im lateinischen Original als auch in der deutschen Auerbach–Übersetzung. Hier, schauen Sie: Band 1, deutsch.« Sie tippte ein paar Schaltflächen auf der virtuellen Tastatur, und eine Reproduktion des Original Titelblatts erschien auf dem Bildschirm. »Sie können es entweder direkt hier auf dem Tablet lesen, oder auf den großen Bildschirm übertragen. Oder Sie können es sich vorlesen lassen. Es gibt mehrere Frauen- und Männerstimmen zur Auswahl. Den Ton kann man in jeden beliebigen Raum des Hauses übertragen. Alain ließ sich manchmal Abends im Bett noch vorlesen.
Rainer war, einmal mehr, sprachlos. Er verstand das alles nicht. Diese Frau, ein Flittchen, und er gebrauchte damit in Gedanken das Wort, mit dem seine Mutter sie sicherlich bezeichnet hätte, das sich ihm schamlos darbot, bediente andererseits mühelos diese komplizierte Technik. Gut, das war wohl nicht so erstaunlich. Er hatte schon öfters festgestellt, dass jüngere Leute dieses Computerzeugs mit einer Leichtigkeit bedienten, die ihn tief verunsicherte. Er stand der modernen Technik ausgesprochen misstrauisch gegenüber und weigerte sich standhaft, mehr von EDV zu verstehen, als zur Ausübung seines Berufs unbedingt notwendig war. Aber was ihn wirklich überraschte war, dass ihr Spinoza ein Begriff zu sein schien.
»Haben Sie die ‚Ethik‘ gelesen?«, fragte er sie vorsichtig. »Bitte siezen Sie mich nicht, Herr«, erinnerte sie ihn höflich an die Vereinbarung. Es war ihr klar, dass sie vorsichtig sein müsste. Wenige Männer ertrugen allzu intellektuelle Frauen. Wenn sie seine Sklavin sein wollte, und das musste sie, dann durfte sie ihn nicht so weit einschüchtern, dass er sie nicht mehr ficken mochte. »Alain mochte Spinoza«, sagte sie darum ausweichend, »er hat mir erklärt, dass Spinoza viele Gedanken als Erster entwickelte, die spätere Philosophen dann erneut aufgriffen. Und Spinozas Idee der natürlichen Ethik, eingebettet in einen Pantheismus ohne lenkende Instanz, entsprach ganz seiner Lebensphilosophie.« Obwohl er es ihr nicht direkt befohlen hatte, kniete sie sich nun zu seinen Füßen nieder, hielt den Oberkörper gerade und den Blick gesenkt.
Rainer betrachtete die sklavisch vor ihm kniende Frau lange. Und während er sie betrachtete, schwoll seine Erektion, die bei den vorherigen technischen und philosophischen Erörterungen nachgelassen hatte, wieder kräftig an. Endlich fasste er Mut: »Ich möchte dich etwas fragen, Liana. Wenn es zu persönlich ist, brauchst du nicht zu antworten.«
»Ja, Herr.«
Er zögerte. »Du warst immer so, hm, so leicht bekleidet hier?«
»Meistens wollte Alain, dass ich im Haus nackt war«, antwortete sie sofort und anscheinend ohne jede Scheu.
Rainer räusperte sich. »Wenn ein Mann eine Frau wie dich sieht, dann, weißt du …«, druckste er, während sie ihn abwartend anblickte. »Naja, es löst bestimmte Reaktionen aus«, gelang ihm endlich eine Art Schluss des Satzes.
»Sie würden mich gern ficken?«, fragte Liana mit einem ganz kurzen koketten Augenaufschlag.
»Ja!«, schrie alles in Rainer. »Nein!«, rief er entsetzt, »aber es macht mich schon nervös. Wie kann man einen klaren Gedanken fassen, wenn du immer so … um einen herum bist?«
»Alain gefiel mein Körper«, sagte Liana stolz und streckte sich ein wenig, sodass ihre Brustwarzen sich deutlich unter dem dünnen Stoff abzeichneten. Wenn ihn mein Anblick von irgendetwas ablenkte, nun, dann hat er mich eben benutzt und danach war er befriedigt und konnte mich wieder ohne Begierde anschauen und sich konzentrieren, auf was immer er wollte. Manchmal hat er mich mehrmals pro Tag benutzt, manchmal auch einige Tage lang gar nicht.«
»Und wie war das für dich: ›benutzt‹ zu werden?«, fragte Rainer fassungslos.
»Es ist meine Bestimmung«, antwortete sie ruhig, und sah ihm dabei einen Moment lang in die Augen, bevor sie den Blick wieder unterwürfig senkte.
Das war zu viel für ihn. Er sprang auf und packte sie am Arm, riss sie grober als nötig hoch und fuhr sie an: »Was bist du nur für ein Mensch? Weißt du eigentlich, wofür Frauen wie Emmeline Pankhurst gekämpft haben? Wofür Emily Davison gestorben ist?« Als er weitersprechen wollte, er hätte nachher nicht mehr sagen können, wie es dazu gekommen war, stand sie ihm plötzlich ganz dicht gegenüber. So dicht, dass ihre Brüste seine Brust berührten und ihr seidiges Haar seinen Hals kitzelte.
»Ja, Herr, das weiß ich. Und nein, Herr, meine Unterwerfung entspringt nicht dem Wunsch, missachtet und misshandelt zu werden.« So dicht stand sie nun, dass ihre leicht geöffneten Lippen wie ein Magnet auf die Seinen wirkte. Als ihre Zungen sich trafen, schoss es wie ein elektrischer Impuls durch seinen Körper.
»Alle Dinge geschehen aus Notwendigkeit. Es gibt in der Natur kein Gutes und kein Schlechtes«, erinnerte er sich an Spinoza. Er umfasste Lianas Taille, folgte mit den Händen der Kontur ihrer Hüfte, fühlte den Saum des Negligés und darunter ihre nackte Haut.
Er erstarrte einen Moment, zaghaft zaudernd, bis ihn Spinoza erneut rettete: »Hieraus folgt, dass der Mensch notwendig immer den Leidenschaften unterworfen ist und der gemeinsamen Ordnung der Natur folgt und gehorcht, und sich ihr, so weit es die Natur der Dinge erheischt, anbequemt.«
Dadurch von seinen Schuldgefühlen unvermittelt befreit, schob er den dünnen Stoff, der Lianas schlanken Leib notdürftig verhüllte, nach oben. Er genoss das Gefühl, über die seidenweiche Haut ihres Pos und ihrer Flanke zu streicheln, als er plötzlich, erneut, er hätte nicht genau sagen können, wie es dazu gekommen war, fühlte, dass sein Penis frei gekommen war und sich nun ungehindert dem Ziel seiner Wünsche entgegenreckte. Ob Liana umsank, oder ob er sie niederdrückte, wusste keiner der beiden, aber jedenfalls lag sie schließlich rücklings auf dem flauschigen Teppich. Im Niedersinken hatte Rainer ihr das Negligé über die Brüste hoch geschoben und prüfte nun mit den Lippen die Härte ihrer Nippel. Doch nicht lange konnte er sich zurückhalten. Er drückte mit seinem Penis ungeschickt und stürmisch gegen ihre Scham, und sie half ihm, den richtigen Weg zu finden. Er fühlte sich hineingleiten, sah, wie sie den Kopf ins Genick streckte, die Augen schloss und wohlig aufstöhnte, und stieß zu, dreimal, viermal, fünfmal dann ergoss er sich schon. Zum allerersten Mal in eine Frau.
Nur einen kurzen Augenblick lang fühlte er sich vollkommen beglückt und befriedigt, dann überfiel ihn die Ernüchterung.
Er schämte sich. Zur Ejaculatio praecox hatte Spinoza nichts geschrieben. Auch keiner der anderen Philosophen, die Rainer so liebte. Sie hatten ihn im Stich gelassen. Was würde Liana nun von ihm denken? Soweit er es feststellen konnte, hatte sie wohl keinen Orgasmus gehabt. Er hatte doch theoretisch gewusst, dass Frauen ein ausgedehntes Vorspiel, einen langen Akt und ein zärtliches Nachspiel wünschten. Nun fühlte er sich beschämt, schmutzig, peinlich berührt. Er hätte nichts zu sagen gewusst, selbst wenn er etwas hätte sagen wollen. Er war ein Versager.
Das ist also die tristesse postkoitale, sagte er zu sich selbst, wälzte sich von Liana herunter und blieb auf dem Rücken liegen. Zu seinem Erstaunen kroch die Sklavin sofort nach unten und leckte zärtlich seinen Penis, das kräftig wuchernde Schamhaar und seinen (ebenfalls recht stark behaarten) Hodensack sauber. Und als ob sie seine Gedanken gelesen hätte, blickte sie ihn anschließend mit hell strahlenden Augen an, und sagte:
»Danke, Herr.« Und sie legte so viel Wärme in diese zwei Worte, dass er keinen Augenblick daran zweifelte, dass sie es ernst meinte.
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2 Gedanken zu „Die Sklavin des Humanisten 03“