Fünfzehn
Die Biologin war funktionsunfähig. Gleichzeitig wusste sie, dass ein Mensch ihren Zustand mit ›Nervenzusammenbruch‹ bezeichnet hätte. Ein Mensch! Nie hätte das Volk es für möglich gehalten, dass eine solche Lebensform existieren könnte! Jedes der Ungeheuer war autonom. Eine Art Volk für sich selbst. Der fliegende Bau war ein Transportmittel. Irgendwo, an einem Ort, dessen Position sich vorzustellen das Bewusstsein des Volkes verweigerte, gab es unzählbar viele derartiger Ungeheuer.
Die Biologin war es, auf die all diese Eindrücke auf einmal einstürmten. Als das Ungeheuer, nein: die ›Frau‹, ihre Antennen berührt hatte, war sie augenblicklich Teil der Kollektivprojektion des Volkes geworden. Allerdings nur über die Biologin als Medium. Nur das, was die Biologin mit Symbolen bezeichnen, also im weitesten Sinn des Wortes verstehen konnte, erreichte auch den Rest des Kollektivintellekts. Völlig fremdartige Konzepte konnte die Biologin nicht in verständliche Begriffe umsetzen. Sie konnte es aber auch nicht ignorieren, denn es war da. Zum ersten Mal, seit das Volk existierte, musste ein Glied allein mit einem Problem fertig werden. Zum ersten Mal stürmten Sinneseindrücke auf ein Glied ein, für das es schlicht kein Organ hatte – Erinnerungen an Geräusche, Stimmen, Tastempfindungen auf einer weichen(!) Oberfläche.
Während die Biologin sich erst in unkontrollierten Zuckungen wand, um wenige Augenblicke später bewegungsunfähig liegen zu bleiben, beschloss das Kollektiv, die Monster in den Bau zu holen. Umgehend wurden Arbeiterinnen abkommandiert, einen Raum bereitzustellen. Die Soldatinnen drängten die Ungeheuer dorthin. Niemand würde die Gefangenen befreien können!
Das Volk hatte keine technische Zivilisation. Erst jetzt erkannte es überhaupt, dass es unterschiedliche Existenzformen gab. Die Menschen hatten nur zwei Kasten, die sie ›Männer‹ und ›Frauen‹, oder ›Kajiras‹ und ›Herren‹ nannten. Es war nicht klar, warum hier verschiedene Symbole eingesetzt wurden. Überhaupt war unbegreifliche Redundanz offenbar ein Merkmal dieser Wesen. Für den Vorgang, dem das Volk das Symbol ›Konjunktion‹ gegeben hatte, kannten die Menschen mehr Begriffe, als der Verstand erfassen konnte. Offenbar diente er in seiner ursprünglichen Form der Fortpflanzung, wurde aber auch unabhängig davon begangen. Manchmal diente er auch der Unterwerfung oder dem Abbau von Aggression. Manchmal ging es auch nur um eine symbolische Verbindung zweier Menschen.
Die Heimat dieser Wesen musste von Überfluss geprägt sein, dass sie sich derartige Verschwendungen ihrer Zeit, Kraft und Intelligenz leisten konnten, um ihre Gene auszutauschen, ohne dass sie je sicher sein konnten, ob der Austausch überhaupt stattfand. Bei alledem besaßen die Menschen nur geringe körperliche Widerstandskraft, glichen diese Schwäche aber durch Kunstbauten aus. Ihr Gedächtnis war, verglichen mit dem des Volkes, geradezu jämmerlich schlecht. Das Volk konnte jederzeit auf das gesamte Wissen des Baus seit seiner Entstehung zurückgreifen, während ein Mensch nicht einmal seine ganze Lebensspanne völlig überblicken konnte. Stattdessen hatten die Menschen Aufzeichnungen. Eine Methode, Wissen auch ohne Kollektivprojektion zu teilen und sogar weiterzugeben. Und sie kooperierten. Obwohl sie nicht, wie die Glieder des Volkes, Teile eines einzelnen Organismus waren, und obwohl sie um dieselben Ressourcen konkurrierten, leisteten sie sich den Luxus von Kooperation. Unbegreiflich.
Es war ausgeschlossen, dass die Biologin diese Widersprüche auflösen konnte. Ihre Sensorik und ihr Intellekt waren für eine solche Aufgabe nicht geeignet. Sie musste schwerste Schäden davontragen. Soldatinnen machen sich also auf, um die Biologin zu zerstören und als Nahrung für die Brut zu zerkleinern. So wurde es immer gehalten, wenn ein Glied nicht mehr funktionsfähig war.
weiter geht es hier mit Chitin – Teil 16
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2 Gedanken zu „Chitin 15“