Chitin 13

Dreizehn

Die Rettungsmission war zu einer fürchterlichen Pleite geworden. Ivan steuerte das Boot kurz nach der Dämmerungszone auf den Zielkurs des ersten Shuttles. Die Nachtvögel, die den Boden vor den Blicken verbargen, gingen nieder, sobald die weiße Sonne über den Horizont stieg. Augenblicklich wurde die Sicht in der trockenen Atmosphäre von New Hope kristallklar, und die öde Wüstenlandschaft breitete sich unter ihnen aus. Dürre, kakteenähnliche Vegetation gab es nur in einem vielleicht zwei Kilometer breiten Streifen entlang eines Flusses, der träge zum einzigen Meer in der Äquatorialzone des Planeten mäanderte. Der von Roger auserkorene Landungsort war leicht zu erkennen: Eine Stelle mit etwas mehr Bewuchs, nahe an einer flachen Biegung des Flusses. Eine Halbinsel, die von einem großen Hügel in der Mitte dominiert wurde. Ähnliche Hügel erhoben sich zu Hunderten und Tausenden weiter im Landesinneren und auf- und abwärts des Flusses. Aus großer Höhe hätte man sie für geologische Formationen halten können, aber beim Niedergehen erkannte man, dass die Gebilde bewohnt waren. Wesen, die man aus großer Höhe für Ameisen halten könnte, rannten in heller Aufregung umher. Allerdings ausgerechnet nur bei demjenigen Bau, der ihr Ziel war. Die anderen Bauten ruhten noch in der Kühle des Morgens. Dicht beim Bau bildeten einige der Ameisen einen Kreis, und im Inneren dieses Kreises konnte man zwei Menschen erkennen. Erst mit dieser perspektivischen Hilfe sah man, wie riesig diese Arthropoden waren: Sie mochten gut zwei Meter lang sein. Die beiden Menschen bewegten sich: Sie blickten nach oben und winkten. Bald war das Shuttle tief genug, um sie zu erkennen: Es waren Gianna und Nardo. Leena öffnete beide Türen der Hauptschleuse, und Ivan steuerte das Boot genau über den Kreis. In diesem Moment stürzten sich die Ameisen auf die beiden Menschen, die bald völlig von den monströsen Insekten bedeckt waren. Ivan richtete die Steuertriebwerke auf die Tiere, so gut er es konnte, ohne die Gefangenen zu gefährden. Die Ameisen verbrannten, wurden aber sofort von nachrückenden Artgenossen ersetzt. Es war hoffnungslos.

»Die Triebwerke überhitzen, ich muss abbrechen!«, rief Ivan durch das Com aus dem Cockpit nach hinten.

»Noch einen Anflug, bitte«, bat Leena.

»Sie sind tot. Willst du auch sterben?«

»Wir haben nicht gesehen, was passiert ist. Lass uns noch einmal nachsehen.«

»Nein.« Er zog die Fähre in einer steilen Kurve nach oben. Leena verlor das Gleichgewicht und rutschte gegen die noch geöffnete Schleusentür hin. Sie war mit dem Halsband und der Leine an der Bordwand befestigt. Nur Ivan konnte den Verschluss öffnen. Und genau in diesem Moment kam ihr die Idee, wie sie ihn dazu bringen würde. Sie schrie laut auf.

»Was ist los?«, fragte Ivan mit entnervtem Ton.

»Ich kann die Außenschleuse nicht schließen! Bin zu kurz angebunden. Ich ersticke!«, gurgelte Leena.

Ivan fluchte laut, schaltete den Autopiloten an, der die Fähre im Geradeausflug hielt und eilte nach hinten. Leena hing bei der offenen Schleuse und wurde offensichtlich nur noch von der Leine gehalten. Sie war dem Ersticken nahe und schaute Ivan verzweifelt flehend an. Immer noch laut fluchend hieb dieser auf den Knopf, der die Außentür schloss. Leena fiel zu Boden, die Hände um ihr Halsband geschlungen, und starrte blicklos zur Decke. Erschrocken löste Ivan das Schloss der Leine und lockerte das Halsband.

In diesem Moment krümmte sich die Kajira katzenartig zusammen, streckte sich im nächsten Moment und versetzte Ivan einen so heftigen Fußtritt in den Genitalbereich, dass er aufschrie, das Gleichgewicht verlor und in die offene Schleusenkammer stürzte. Noch während er dort benommen lag, schlug Leena auf die Notverriegelung der Schleuse, die sich sofort mit einem lauten Knall schloss. Nach kurzem Nachdenken zuckte sie mit den Schultern und betätigte den Schalter, der die äußere Schleuse öffnete. Ohne einen weiteren Blick auf den in die Tiefe fallenden Ivan zu verschwenden, ging sie dann zum Cockpit und schaltete den Autopiloten aus. Sie konnte das Shuttle fliegen. Alle konnten es. Dies hatte zur Grundausbildung gehört. Und die Bedienung war im Grunde auch sehr einfach, solange man sich im Schwerefeld eines Planeten bewegte: Ein Joystick diente der Steuerung, ein Hebel der Geschwindigkeitsregelung. Der Bordcomputer sorgte dafür, dass das Boot nicht in Gefahr geriet, egal, was der Pilot anstellte. Und der Autopilot steuerte die Fähre im Zweifelsfall immer vollautomatisch zum Dock der ›Santa Maria‹.

Leena wendete also und jagte zum Ameisenbau zurück. Doch dort war niemand mehr. Die Ameisen waren im Inneren verschwunden und von den Menschen war keine Spur zu sehen. Leena kreiste und entdeckte einen weiteren Bau ganz in der Nähe, der mit Tausenden von toten, teils völlig zerfetzten Ameisen umgeben war. Was mochte hier geschehen sein?

Als sie beim ersten Bau niederging, um zu erkennen, was sich hinter dem Eingang befand, stürzte sich sofort eine Horde Formiciden in ihre Richtung. Erschrocken gab sie Vollschub. In den vielleicht zwei Sekunden, die die Triebwerke benötigten, um auf volle Leistung zu kommen, hatten die ersten Ameisen das Boot fast erreicht. Im letzten Moment schoss es nach oben und ließ verbrannte Arthropoden unter sich zurück. Leenas Herz klopfte bis zum Hals. Zu frisch war noch ihre Erinnerung, was mit dem ersten Shuttle und seiner Besatzung geschehen war. Gianna und Nardo waren nicht mehr hier. Ivan hatte recht gehabt. Schluchzend glitt sie vom Pilotensitz und rollte sich auf dem Boden zusammen, die Hände um die Knie geschlungen. Sie war allein. Die letzte Überlebende der größten Expedition aller Zeiten.

Der Autopilot registrierte, dass das Shuttle auf Handsteuerung war, aber niemand an den Kontrollen saß, übernahm die Steuerung und flog die Fähre sicher zur ›Santa Maria‹.


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